Berlin – Richtig rauslassen konnte Malaika Mihambo ihre Freude über den Weitsprung-Titelgewinn bei der Leichtathletik-EM nicht. Die Heidelbergerin schien sich in der umgehängten Deutschland-Fahne eher verkriechen zu wollen.
«Wenn die Anspannung nicht abgefallen ist, kommt da nix durch», bekräftigte die 26 Jahre alte Politologin. «Ich bin schon ein verkopfter Mensch.» Deshalb fiel auch die Analyse ihres Medaillenkampfes, bei dem Gold bis zum vorletzten Sprung auf der Kippe stand, selbstkritisch und rational aus. «Ich brauchte zwei Sprünge, um einen guten zu machen», sagte Mihambo, die vor zwei Jahren schon EM-Bronze gewonnen hatte.
Die beiden ersten Sprünge landeten jeweils bei 6,36 Meter, bevor der Siegsprung auf 6,75 Meter gelang. Glück hatte Mihambo, dass Marina Bech aus Weißrussland im sechsten Versuch nur zwei und die Britin Shara Proctor fünf Zentimeter weniger weit kamen. «Es war nicht optimal, doch es zählt nur der Titel», sagte die neue Titelträgerin. «Wenn von der Konkurrenz nichts kommt, zeige ich auch nicht das Beste.»
Aus unmittelbarer Nähe konnte Heike Drechsler als Kampfrichterin an der Grube den Zitter-Wettkampf ihrer Nachfolgerin erleben. Sie hatte als zuvor letzte Deutsche vor 20 Jahren den EM-Titel geholt. «Sie war auch an der Grube, aber das habe ich bis zum letzten Sprung gar nicht wahrgenommen», berichtete Mihambo von ihrer Entrücktheit in der mit 60 500 Zuschauern besetzten Arena. «Dann hatten wir jedoch Blickkontakt, und sie hat mir zugenickt und gelächelt.»
Gelitten hat auf der Tribüne ihr Trainer. «Es war sehr spannend, so spannend hätte ich es nicht gebraucht», meinte Ralf Weber erleichtert. «Dass es gereicht hat, hätte ich nicht erwartet. Aber: Gewonnen, Europameisterin – was will man mehr!»
Der 50 Jahre alte Sportlehrer und seine Musterschülerin sind nicht nur eine kleine Ewigkeit erfolgreiche Partner. Seit über zehn Jahren arbeiten sie zusammen, ohne Abnutzungseffekt. «Wenn man eine so lang gewachsene Beziehung hat, ist es ein Vorteil gegenüber anderen», sagte Mihambo über die Vertrautheit mit ihm bei der LG Kurpfalz. Mehr als eine umfassende Betreuung in einem Leistungszentrum: «Ich habe in meinem Verein alles, was ich brauche. Ich bin bei meiner Familie, meinen Freunden und mein Trainer ist super.»
Neben den immer neuen Impulsen und Erkenntnissen des Coaches aus zahlreichen Excel-Tabellen mit Trainingswerten steuert auch Mihambo etwas Besonderes zu ihrem Aufstieg in die Weltklasse bei: das Klavierspielen. Mit Sonaten von Frédéric Chopin oder Claude Debussy schult sie ihr Rhythmusgefühl für den Anlauf. «Es hilft bei der Koordination, wenn man mit zwei Händen unabhängig voneinander spielt», erklärte die Tochter einer deutschen Mutter und eines Vaters aus Sansibar. Bei einem Wettbewerb ihrer Musikschule hat sie sogar einen Preis für ein selbst komponiertes Stück gewonnen.
Im Jahr 2017 stand für die Frau mit den vielen Talenten ihre sportliche Karriere auf dem Spiel. Als Folge des Abrutschens von einer Treppenstufe bildete sich ein Knochenödem am Fuß, es drohte das Absterben von Gewebe. «Da musste ich sehr zittern», sagte die Olympia-Vierte von 2016. «Seitdem ist jeder Wettkampf ein Geschenk.»
Im EM-Sommer kehrte Mihambo stärker denn je zurück und steigerte im Mai in Weinheim ihre Bestleistung auf 6,99 Meter, gewann den EM-Titel und hofft nun auf den ersten Sieben-Meter-Satz: «Ich habe noch drei Wettkämpfe in der Saison. Mal sehen, was da rauskommt.»
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(dpa)