Wintersport

Mythos Vierschanzentournee: Wenn Fans Windeln tragen

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Oberstdorf – Martin Schmitt und Sven Hannawald sind zwar nicht die Backstreet Boys oder Robbie Williams. Wer sich Anfang der 2000er-Jahre aber rund um die Skisprungschanzen in Deutschland oder Österreich umschaute, hätte genau das vermuten können.

Teenager kreischten solange, bis sie heiser wurden. Völlig verrückte Anhänger mit «Hanni, ich will ein Kind von dir»-Plakaten oder lila Martin-Mützen standen acht Stunden vor Beginn der Springen an der Anlage, um ihre Helden hautnah zu erleben. Um den Platz in erster Reihe nicht mehr zu verlieren, griffen die Anhänger zu abstrusesten Mitteln – und legten sogar Windeln an, um die Notdurft örtlich flexibel zu verrichten.

«Natürlich kenne ich die Geschichten, ich war ja dabei. Das war eine ganz verrückte Zeit. Da war so viel los an den Schanzen, vor unserem Hotel, überall an den Wettkampfstätten. Da war eine riesige Begeisterung um uns», erzählt Schmitt der Deutschen Presse-Agentur. Der zweimalige Gesamtweltcup-Sieger war ein Weltklasse-Springer, er war wie Hannawald aber vor allem auch ein charismatischer Fan-Magnet, für den Tausende extra ins Skisprung-Stadion strömten.

Frauenhelden und Teenager-Idole gibt es 2019 zwar in dieser Form kaum noch, ein gewaltiger Mythos aber hat seit Mitte des vergangenen Jahrhunderts Bestand: die Vierschanzentournee, erstmals veranstaltet im Jahr 1953. Das Schanzen-Spektakel in den Austragungsorten Oberstdorf, Garmisch-Partenkirchen, Innsbruck und Bischofshofen lebt von seiner Tradition und zieht regelmäßig um den Jahreswechsel auch Menschen in seinen Bann, die sonst ein ganzes Jahr überhaupt nichts mit Skispringen oder Wintersport generell am Hut haben.

Der Privat-Sender RTL bewarb die Tournee gar als «Formel 1 des Wintersports». Als sich Hannawald am 6. Januar 2002 zum ersten Vierfachsieger in der Geschichte der Veranstaltung krönte, sahen über 13 Millionen Deutsche an den Fernsehgeräten zu. «Ich habe viele tolle Sachen erlebt, sowohl eigene Dinge als auch von Kollegen. Aber der Grand Slam vom Sven war ein Wahnsinnshighlight», sagt Schmitt.

Die Dimensionen zu dieser Zeit waren gewaltig: Mit 30 Kameras und 300 Mitarbeitern begleitete RTL die Tournee damals. 48,5 Millionen D-Mark zahlte der Sender dem Deutschen Skiverband (DSV) 1999 für den ersten Dreijahresvertrag, 120.000 Mark kostete ein 30-sekündiger Werbespot beim Neujahrsspringen. Solche Werbekosten – dann natürlich nochmals deutlich höher – werden sonst nur genannt, wenn mal wieder der Super Bowl stattfindet.

Auch wenn das ganz große mediale Interesse in den Krisenjahren nach Schmitt und Hannawald nachgelassen und bis heute nie wieder dieses Niveau erreicht hat, ist der zehntägige Alpen-Streifzug durch die vier Orte weiterhin Kult. Das hat diverse Gründe. Der Start im Allgäu ist seit Jahren ausverkauft und stimmungsgeladen, er begeistert die Zuschauer im Stadion und in den deutschen Wohnzimmern. Norwegens Trainer Alexander Stöckl sagt: «Oberstdorf macht wirklich etwas Tolles draus, ein Event.»

Auch das Alleinstellungsmerkmal macht die Tournee besonders. Zwar gibt es seit ein paar Jahren mit der Raw-Air-Tour in Norwegen eine Konkurrenzserie, jedoch machen der Termin kurz nach Weihnachten, die über Jahrzehnte gewachsene Tradition sowie die im K.o.-Format ausgetragenen Springen die Tournee zu einem Event mit einem großen Wiedererkennungswert. Bundestrainer Stefan Horngacher sagt: «Das Interesse an der Vierschanzentournee ist einfach unvorstellbar groß und zeigt, dass unser Sport ein schöner, sauberer und guter Sport ist.»

Wie die Sportler mit 90 Stundenkilometern Geschwindigkeit durch den Anlauf rasen und sich anschließend nach vorne stürzen, beeindruckt Millionen Fans, für die ein derartiges Wagnis auf der Schanze abstrakt ist und in den allermeisten Fällen für immer abstrakt bleiben wird. «Es lastet kein Druck auf einem, man kann einfach genießen, und man merkt, wie man mit der Luft spielen kann. Was ein Mensch in der Luft mit zwei Latten unter den Füßen leisten kann, das finde ich genial», beschreibt Markus Eisenbichler, der letztjährige Tournee-Zweite, das Erlebnis Skispringen.

Die gewachsenen Traditionen der Tournee werden mit Sicherheit auch ihre Zukunft prägen. Vier Schanzen, die vier Orte, zehn Tage Dauerdruck und das Duell eins gegen eins im ersten Durchgang: Diese Parameter werden bleiben. Dennoch sehen die Aktiven durchaus Verbesserungspotenzial – wie zum Beispiel die Eingliederung der Frauen in das Programm – oder eine Erhöhung des spärlichen Preisgeldes für den Sieger, das in den vergangenen Jahren bei 20 000 Schweizer Franken lag.

«Wenn du Monopolist bist, das ist die Tournee seit 67 Jahren, dann hast du keine Motivation, dass du groß etwas änderst», monierte der Österreicher Stöckl. Die norwegische Raw-Air-Serie lobte er mit Blick auf Wertschätzung der Athleten, Preisgeld und Organisation in den allerhöchsten Tönen. Was für Stöckl nichts am Stellenwert des Events in Deutschland und Österreich ändert. «Die Tournee ist sowieso», sagt er und macht eine kurze Kunstpause, «das Größte.»

Fotocredits: Barbara Gingl,Frank Leonhardt
(dpa)

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