London – Bei ihrer Wimbledon-Premiere 1997 stand Boris Becker im Viertelfinale. 1999 schied sie gegen Steffi Graf aus. Als 17-jähriger Teenager tauchte Venus Williams erstmals auf der Anlage des All England Clubs im Südwesten Londons auf und durfte auf den gepflegten Rasenplätzen mitspielen.
Dass sie in der ersten Runde gegen die Polin Magdalena Grzybowska verlor, füllt in der mehrere hundert Seiten starken Hochglanz-Wimbledon-Enzyklopädie, die Jahr für Jahr vor Turnierbeginn verteilt wird, nicht mehr als eine Zeile.
Am Samstag jedoch, dem 15. Juli 2017, kann Venus Ebony Starr Williams nicht nur frisches Material für die Rekordspalten liefern, sondern im Finale (15.00 Uhr MESZ) gegen die Spanierin Garbiñe Muguruza auch ihr eigenes wundersames Wimbledon-Märchen krönen.
«Ich klopfe an die Tür zum Titel. Es ist noch ein Match, aus dem ich gerne als Siegerin hervorgehen würde. Ich möchte noch einen Schritt weitergehen», sagte die 37-Jährige, als sie mit einem humor- und schnörkellosen 6:4, 6:2 gegen Johanna Konta ihr neuntes Endspiel an der Church Road erreicht hatte. Mit einem weißen Handtuch über den Schultern und der weißen Schirmmütze im Haar betrat Williams den klimatisierten Interviewraum, blickte kurz nachdenklich-sinnlich zu Boden und vergaß zunächst, ihr Smartphone auf lautlos zu stellen.
Natürlich klingelte es bei einer der ersten Fragen, doch Williams redete einfach weiter mit ihrer sanften Stimme. Sie vermisse ihre schwanger pausierende Schwester Serena, verriet die ältere der beiden so unterschiedlichen Williams-Geschwister. Hier die eher stille, gläubige Venus, die unter einer Autoimmunkrankheit leidet, die Gelenkschmerzen und Müdigkeit verursachen kann. Da die oft so aufgekratzte, extrovertierte Serena, die sich jüngst fast nackt vom Magazin «Vanity Fair» mit ihrem Babybauch hat ablichten lassen.
Sie werde sich vor dem Endspiel noch ein paar Tipps bei Serena holen, sagte Venus Williams. Schließlich hatte ihre Schwester vor zwei Jahren im Wimbledon-Endspiel gegen Muguruza gewonnen. In Abwesenheit der dominantesten Spielerin der vergangenen Dekade gehören die Schlagzeilen jetzt aber nicht etwa der neuen Nummer eins Karolina Pliskova oder der im Achtelfinale an Muguruza gescheiterten Angelique Kerber. Sondern erstaunlicherweise der 1980 geborenen Venus Williams.
Gegen die 23 Jahre alte Muguruza bestreitet sie ihr erstes Wimbledon-Endspiel seit 2009 – als älteste Finalistin seit Martina Navratilova vor 23 Jahren. Mit einem Sieg gegen die French-Open-Siegerin von 2016 wäre Venus Williams die älteste Grand-Slam-Championesse in der Geschichte des Profitennis.
Statistiken und Rekorde werden ja oft bis ins noch nutzloseste Detail seziert, doch bei Venus Williams helfen die bemerkenswerten Zahlen zur Einordnung und Würdigung ihrer Ausnahme-Leistung. Ihren ersten von fünf Wimbledon-Titeln (2000, 2001, 2005, 2007, 2008) feierte sie ein Jahr nach dem Karriere-Ende von Steffi Graf. Am 25. Februar 2002 wurde sie die Nummer eins der Weltrangliste. 2000 und 2001 triumphierte Venus Williams bei den US Open. Dass sie sich nun erneut zur Queen von Wimbledon krönen kann, ist zwar keine sportliche Sensation, war aber nach der Vorgeschichte mit ihrer Beteiligung an einem tödlichen Autounfall vor einigen Wochen so nicht zu erwarten.
«Es ist wichtig, an sich zu glauben», sagte Williams und erzählte, dass sie früher gerne Steffi Graf, Monica Seles, Boris Becker und Stefan Edberg zugeschaut habe. Was sie an Becker besonders gut fand, wurde sie gefragt. «Ich habe seinen Aufschlag geliebt, er hat dominant gespielt», sagte Williams, lächelte und wiederholte: «Ich habe es gemocht, wie dominant er gespielt hat.» Wie sie eben auch.
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(dpa)